Mü 30 „Schlacro“ (2000)

Mit der Fertigstellung der Mü 28 Anfang der 80er-Jahre wurden neue Maßstäbe für den Segelkunstflug gesetzt. Dennoch hat der Kunstflug seinen Ursprung im Motorflug. Betrachtet man ein typisches Motorkunstflugzeug, so verfügt es über ein sehr gutes Leistungsgewicht dank ausgeprägtem Leichtbau (einfache Bauweise mit minimalen Systemen), extreme Agilität bei guter Kontrollierbarkeit und geringen Steuerkräften sowie einer guten Flugleistung, einschließlich guter Steigleistung. Genau diese Eigenschaften sind aber nicht nur für den Kunstflug vorteilhaft, sondern auch in Bezug auf die Effizienz und Sicherheit im Schleppbetrieb.

So war die Grundidee für die Mü 30 „Schlacro“ geboren, ein Motorflieger für SCHLepp und ACRObatik. Die notwendigen Kompromisse, um beiden Betriebsarten gerecht zu werden, sollten die Eignung für jede der beiden Einsatzszenarien nur geringfügig beeinträchtigen. Die hohen Kosten beim Betrieb als Kunstflugzeug sollten außerdem durch den Einsatz als Schleppflugzeug kompensiert werden.

Der Motor

Anfang der 80er-Jahre hatte die Firma Porsche die Entwicklung eines modernen Flugmotors, basierend auf dem luftgekühlten 6-Zylinder-Boxermotor des 911er-Sportwagens, in Angriff genommen. Der PFM 3200 wurde 1984 musterzugelassen und die Zulassung einer kunstflugtauglichen Weiterentwicklung war ebenfalls beabsichtigt. Dieses Triebwerk wurde von Porsche für die Mü 30 kostenlos zur Verfügung gestellt und wäre durch die Eignung für Autobenzin („Mogas“) auch in den Betriebskosten gegenüber Motoren, die Flugbenzin benötigen („Avgas“), sehr günstig gewesen. Das Untersetzungsgetriebe des PFM 3200 ermöglicht gegenüber konventionellen „Direktantrieben“ eine geringere Propellerdrehzahl und damit geringere Lärmemissionen.

Mit der Verfügbarkeit eines top-modernen Triebwerks entschied sich die Gruppe 1984 zum Bau der Mü 30 und gegen die Mü 29, einem Rennklasse-Segelflugzeug für den Streckenflug.

Die erste Projektphase

Der Bau der Mü 30 war auf das Porsche-Triebwerk ausgerichtet. Der Motor hatte seine Ursprünge in der Automobilindustrie, weswegen die Anordnung der Befestigungspunkte für Flugzeuge etwas ungewöhnlich war. Bezeichnet wurde diese Art der Anordnung als „bed-mounted“. Typischerweise sind Triebwerksträger für „bed-mounted“ Motoren aufwendiger als „rear-mounted“ Konstruktionen. Neben dem höheren Aufwand sind sie normalerweise auch schwerer. Um bei der Mü 30 nicht gleich bei einem der ersten Bauteile unnötige Gewichtssünden zu begehen, wurde die Festigkeitsberechnung mittels eines FEM-Modells  auf einem Großrechner durchgeführt und hinsichtlich Gewicht optimiert. Der Motorträger wurde einem statischen Belastungsversuch bis zur sicheren Last unterzogen. Anhand Dehnmessstreifen sollten die Dehnungen gemessen und so die FEM-Rechnung validiert werden. Anschließend sollte der Nachweis der Bruchfestigkeit rein analytisch erfolgen. Jedoch haben die Versuchsergebnisse diesen Ansatz nicht ganz bestätigt. Die Abweichungen zwischen der Rechnung und dem Versuch waren zu groß und es wurden Stellen identifiziert, an denen die Festigkeit nicht ausreichend war.

Belastungsversuch des Porsche-Motorträgers der Mü 30 Schlacro
Belastungstest des Motorträgers für den Porsche-Motor 1988

Mitte der 80er-Jahre wurde der Bau mit Faserverbund-Verstärkungsfasern Aramid (gebräuchlicher Markenname „Kevlar“) immer populärer. Der Stoff war ziemlich vielversprechend: leichter als Kohlefasern, mit fantastischen (Zug-) Festigkeiten, jedoch ziemlich unhandlich in der Verarbeitung. Kevlar versprach bei der Verwendung als Belegung von Sandwichschalen in der Flügelschale und den Leitwerksflossen erhebliche Gewichtsvorteile. Verbindliche Dimensionierungs- und Materialkennwerte waren zum damaligen Zeitpunkt noch nicht vorhanden, jedoch wurden „konservative” Werte angenommen, von denen man ausging, sie in kommenden Werkstoffversuchen zu bestätigen. 

1990 gab es einen Belastungsversuch eines mit Kevlar verstärkten Spornbügels, welcher brach. Eine zweite, verbesserte Version ereilte das gleiche Schicksal, welches die angenommenen Werte von Kevlar anzweifeln ließ. Daraufhin wurde 1991 ein Versuchsprogramm zur Bestimmung der bis dahin unsicheren Werte von Kevlar aufgesetzt und durchgezogen. Dieses bestätigte, dass die für die Dimensionierung verwendbaren Materialkennwerte schlechter waren als die getroffenen Annahmen.

Hinsichtlich des Motorträgers gab es schließlich eine Lösung, wenn auch eine unbefriedigende: Seitens Porsche wurde bekannt gegeben, dass der Motor in der kunstflugtauglichen Version nicht für die von der Akaflieg für die Mü 30 angestrebten Lastvielfachen von ±10 g zugelassen werden würde. Für reduzierte Lastvielfache war die Festigkeit des Motorträgers in seiner derzeitigen Bauausführung ausreichend.

Ein erzwungener Kurswechsel

1992 wurde das PFM-3200-Motorenprogramm von Porsche als eingestellt bekannt gegeben. Ein Abschluss der Entwicklung zur Kunstflugtauglichkeit des Motors vor Einstellung des Programmes war nicht vorgesehen. Mit dem Verlust des Motors war eine wesentliche Grundlage für das Projekt Mü 30 weggefallen. Baulich fertiggestellt waren bereits die Formen für Flügel, Höhen-/Seitenleitwerk und Haube sowie das geschweißte Rumpf-Stahlrohrgerüst. Die rumpfseitige Steuerung war weit fortgeschritten und das Höhen- und Seitenleitwerk war nahezu rohbaufertig. Die Auslegung samt Leistungsrechnung, Schwerpunktsbestimmung und Lastannahmen waren mit dem Wegfall des Motors nicht mehr aktuell. Auch bezüglich des verwendeten Werkstoffs Kevlar verloren die verwendeten Dimensionierungswerte ihre Gültigkeit.

Letztlich ging es um die Entscheidung, das Projekt abzubrechen oder es mit der Auswahl eines neuen Triebwerks neu auszulegen. Die Wahl fiel schließlich auf einen Lycoming AEIO-540-L1B5. Es war damals das stärkste in der westlichen Welt marktverfügbare und für Kunstflug zugelassene Triebwerk. Der Sechszylinder-Boxermotor leistet aus knapp 9 Litern Hubraum 300 PS bei 2700 U/min. Alternative Ansätze wie russische Sternmotoren (noch leistungsfähiger), Propellerturbinen (teuer und eingeschränkt kunstflugtauglich) oder Triebwerke mit weniger Leistung (4-Zylinder, mit 200 PS) wurden verworfen.

Die zweite Projektphase

Mit der Auswahl des Lycoming AEIO-540-L1B5-Motors begann die zweite Phase des Mü-30-Baus. 1993 wurden die Lastannahmen überarbeitet (höheres Leergewicht, höhere Abflugmassen), ein neuer Motorträger entworfen und am elektrisch angetriebenen Klappenantrieb gearbeitet.  Die Querruder wurden durch eine Variante mit der größtmögliche Rollrate ersetzt, die mit der Mü 30 bei einer Spannweite von 8,96 m möglich ist. Die Rollrate wuchs somit von 150 °/s auf 200 °/s. Das Leitwerk wurden mit den neuen Lasten und den mittlerweile verfügbaren Kevlar-Dimensionierungswerten nachgerechnet. 

Es wurden diverse Beschläge verstärkt und die Schalen wurden durch weitere „Angstlagen“ von außen versteift. Der Rumpf wurde durch ausgetauschte Rohre lokal verstärkt und an die neuen Lasten angepasst. Alte Flügelzeichnungen waren nichts mehr wert. Statt einer Kevlarschale mit Kohleholmgurten und einem Glasfasersteg, wurde ein Vollkarbonflügel beschlossen. Ein überholter AEIO-540-L1B5D wurde in den USA bestellt. Der als Einbaudummy verwendete Motor der Firma Mühlbauer wurde der Akaflieg dankenswerterweise endgültig überlassen und als sogenannter „core“ für den zu überholenden Motor in die USA geschickt. 

Die gesamte Gewichts- und Schwerpunktrechnung wurde aktualisiert und das v-n-Diagramm auf den aktuellen Stand gebracht, da aufgrund des neuen Motors ganz andere Massen zu berücksichtigen waren. Es wurde darauf geachtet, hier Reserven einzubauen, um im Zuge des weiteren Baus auf Eventualitäten vorbereitet zu sein. Da der (rechnerisch vorherbestimmte) Schwerpunkt nicht mehr mit dem flugmechanisch gewünschten Schwerpunkt in Einklang zu bringen war, wurden die Tragflächen um knapp 150 mm nach hinten verschoben und die Flugmechanik aktualisiert. Nebenher wurde an den Zulassungsunterlagen gearbeitet.

Erstflug und Flugerprobung

Der Antrag auf die vorläufige Verkehrszulassung (VVZ) wurde beim Luftfahrt Bundesamt (LBA) abgegeben und mit Gültigkeit vom 29. Dezember 1999 lag die erste VVZ für die Mü 30 vor. Nach der Aktualisierung des Flughandbuchs war der Flieger am Ostermontag 2000 technisch und von der Papierlage her klar zum Erstflug. 

Letzte Genehmigungen (lokal am Flugplatz Königsdorf und beim Luftamt Südbayern) wurden eingeholt und Rollversuche (inkl. „high speed taxi“) anberaumt. Am Donnerstag wurde per Akaflieg-Rundmail über die „Erstflugabsicht“ informiert. Am Abend folgte dann der erste „high speed taxi test“ in „Zweipunktlage“ mit Sporn in der Luft. Kontrolliert und ohne negativen Befund. 

Am Freitag, dem 28. April 2000, erfolgte dann ein weiterer „high speed taxi test“ und am Nachmittag bei leichtem Seitenwind der erste Start auf der „10“ in Königsdorf von der Grasbahn. Nach diesem „inoffiziellen“ Erstflug wurde der Flieger zusammengepackt und zum Institut für Aeroelastik der DLR in Göttingen zum Standschwingversuch verbracht. Zurück in Königsdorf erfolgte dann der offizielle Erstflug am 16. Juni 2000 mit vielen Gästen und Presse.

Die folgenden drei Jahre der Flugerprobung legten dann doch noch einige Probleme offen, die ab 2003 zu einer längeren Unterbrechung der fliegerischen Aktivitäten führten. Im Speziellen betraf dies die anfangs nicht ausreichende Kühlung des Motors, den Umbau auf ein neues Auspuffsystem und eine völlige Neukonstruktion des Lufteinlaufs. Letzteres war mit dem Neubau der Cowling verbunden, die außerdem Risse aufgrund von Festigkeitsproblemen hatte. 2007 wurden die Umbauarbeiten erfolgreich abgeschlossen und zulassungsrelevante Flugeigenschaften und -leistungen wurden erflogen, inklusive abschließender Trudelflüge. 2009 wurde der Abschluss der Erprobung bestätigt und die Zulassung als Einzelstück beantragt. Am 17. Februar 2011 erhielt die Mü 30 schließlich die erhoffte Zulassung als Einzelstück in der (unbeschränkten) Sonderklasse durch das LBA.

Der Betrieb seit der Zulassung

Im Winter 2013/2014 wurde der Motor grundüberholt.

2014 flog die Mü 30 erstmals auf Motorkunstflug-Meisterschaften: Sascha Odermann gewann sowohl die Bayerische als auch die Deutsche Meisterschaft mit dem Schlacro.

2016 wurde eine Rauchgasanlage (Smokesystem) eingerüstet und mit der Erprobung begonnen, bis sie 2022 zugelassen wurde. Mit diesem System wirken die Flüge der Mü 30 auf Flugschows noch beeindruckender. 2023 erlangte der Schlacro sogar nationale Bekanntheit, also er mit Sascha am Steuer ein riesiges Herz und eine Brezn in den Himmel über dem Oktoberfest zeichnete. Diese Aktion wurde 2024 unter großem Jubel wiederholt.

2019 wurde das leidige Thema eines anfälligen und kurzlebigen Spornrades durch Einbau eines geänderten Rades verbessert.

2020 erreichte die Mü 30 die ursprünglich in der Zulassung festgelegte Lebensdauer von 20 Jahren (mit über 1.000 Flugstunden). Um diese Grenze zu überwinden, wurde das Wartungshandbuch um ein Inspektionsprogramm, das alle 20 Jahre beziehungsweise 3.000 Stunden durchzuführen ist, erweitert. Die entsprechenden Inspektionen und Wartungsarbeiten wurden erfolgreich durchgeführt und somit sind wieder bis zu zwei Jahrzehnte „offen“.

Fazit

Der Schlacro hat von seiner ersten Idee bis zu seiner Zulassung eine sehr bewegte Geschichte, die vor allem in der Phase nach dem Ende des Porsche Motors bis zum Erstflug viel Durchhalten erforderte. Im Verlauf des Baus kamen viele Zweifel auf, ob sich dieses „mächtige Gerät“ angesichts von Kosten, Aufwand und fliegerischem Anspruch jemals einem sinnvollen Flugbetrieb innerhalb der Akaflieg zuführen lassen wird. Die reale Entwicklung war schließlich wesentlich positiver als diese Befürchtung. Der Betrieb als Schleppflugzeug ist möglich und nicht zuletzt dank des Engagements der Firma INTEC als Sponsor leistbar. Der Schlacro ist das Aushängeschild unserer Akaflieg und verdient sich durch Aktionen wie dem Herz über dem Oktoberfest oder dem spektakulären Doppelschlepp der Red-Bull-Blanix so viel mediale Aufmerksamkeit wie kein anderer Prototyp.